Plädoyer für die Richtigstellung der Begriffe
Unsere Welt nehmen wir wahr über Definitionen und Begriffe, kurz: wir erzählen Geschichten über die Welt, wie wir sie sehen (wollen). Begriffe entstehen aus unserer Sicht auf die Welt. Begriffe sind Kurzformen, wie wir die Welt interpretieren. Unsere Interpretation der Welt ist verantwortlich für unsere Handlungen. Wenn wir die Begriffe ändern, ändern wir unsere Sicht auf die Welt, ändern wir unsere Handlungen. Ändern wir unsere Handlungen, verändern wir die Welt.
Der Begriff Demenz leitet sich ab aus dem lateinischen Wort demens und steht für Verrücktheit, Wahnsinn oder Torheit. Der lateinische Begriff ist eine Zusammensetzung aus dem Wort mens für Geist und der Vorsilbe de als Zeichen für eine Negation … des Geistes.
Im 18. Jahrhundert wurde der Begriff umgangssprachlich für alle Forme geistiger Störungen, auch genannt: Schwachsinn, verwendet und erst 1827 von dem Psychiater Jean-Étienne Esquirol als medizinischer Begriff démence für ausschließlich während des Lebens erworbene geistige Störungen verwendet, im Gegensatz zu angeborenen geistigen Störungen.
Seither geistert die Demenz, oder eben der Schwachsinn, die Verrücktheit, der Wahnsinn, die Torheit durch die medizinische und umgangssprachliche Welt und stigmatisiert Menschen mit mehr oder weniger ausgeprägter Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten.
Bekommst Du an dieser Stelle nicht auch Bauchschmerzen? Ist es heute wirklich noch angemessen, Deine Mutter aufgrund der Einschränkung ihrer kognitiven Fähigkeiten als eigentlich schwachsinnig zu bezeichnen?
Man kann nun durchaus einwenden, dass der Begriff Demenz allgemein und speziell in der Wissenschaft anerkannt ist. Dem setze ich entgegen, dass dies auch vor gar nicht allzu langer Zeit für abwertende Begriffe wie Neger, unwertes Leben oder entartete Kunst galt. Dazu eine kleine Geschichte von der Richtigstellung der Begriffe von Konfuzius:
Dsï Lu sprach: »Der Fürst von We wartet auf den Meister, um die Regierung auszuüben. Was würde der Meister zuerst in Angriff nehmen?« Der Meister sprach: »Sicherlich die Richtigstellung der Begriffe.« Dsï Lu sprach: »Darum sollte es sich handeln? Da hat der Meister weit gefehlt! Warum denn deren Richtigstellung?« Der Meister sprach: »Wie roh du bist, Yu! Der Edle läßt das, was er nicht versteht, sozusagen beiseite. Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so gedeiht Moral und Kunst nicht; gedeiht Moral und Kunst nicht, so treffen die Strafen nicht; treffen die Strafen nicht, so weiß das Volk nicht, wohin Hand und Fuß setzen. Darum sorge der Edle, daß er seine Begriffe unter allen Umständen zu Worte bringen kann und seine Worte unter allen Umständen zu Taten machen kann. Der Edle duldet nicht, daß in seinen Worten irgend etwas in Unordnung ist. Das ist es, worauf alles ankommt.« Konfiuzius: Lun Yu. Gespräche. (Buch XIII, 3. Staatsregierung, 3. Richtigstellung der Begriffe), Düsseldorf/Köln 1975, S. 131., ISBN: 978-1-4942-5319-6
Die Gemeinsamkeit aller Diagnosen zur sogenannten Demenz besteht in einer nicht angeborenen Einschränkung von kognitiven Fähigkeiten, die verschiedene Ursachen und Schweregrade haben kann. Kognition selbst ist die verhaltensgesteuerte Umgestaltung von Informationen und leitet sich ab vom lateinischen Begriff cognoscere, welcher für erkennen oder erfahren steht.
Die Verbindung der Einschränkung von kognitiven Fähigkeiten mit dem im Grunde abwertenden Begriff Demenz ist also eine Geschichte, die wir als Definition erfunden und verinnerlicht haben. Geschichten ändern sich. Definitionen ändern sich. Begriffe ändern sich. Es ist Zeit für die Änderung der fachlichen, wissenschaftlichen Bezeichnung von kognitiven Einschränkungen als Schwachsinn und damit auch Zeit für das Ende der stillen Stigmatisierung von Menschen mit kognitiven Einschränkungen als Schwachsinnige.
Aus diesem Grunde setze ich mich dafür ein, in Zukunft für pathologische (krankhafte) Einschränkungen von kognitiven Fähigkeiten vielleicht einen neuen Begriff der (partiellen) INKOGNITION (bedarfsweise zunächst mit dem Begriff Demenz in einer erklärenden Klammer) einzuführen.
Inkognition steht hier für die ganze Bandbreite an krankhaften Einschränkungen kognitiver Fähigkeiten und soll auch keine Abwesenheit von Kognition andeuten, sondern eben die mehr oder weniger ausgeprägte Einschränkung der Kognition durch krankhafte Veränderungen. Partiell weiterhin aus dem einfachen Grunde, dass ein vollständiger Verlust jeglicher Kognition nicht möglich und – meines Wissens nach – auch nicht bekannt ist, da zumindest rudimentäre kognitive Fähigkeiten – zur Informationsverarbeitung und Informationserfahrung – vorhanden sein müssen, um überhaupt leben zu können.
Da es sich bei der Einschränkung kognitiver Fähigkeiten also offenbar um eine partielle Inkognition (Demenz) zu handeln scheint, können verschiedene Schweregrade auch als Stufen von I für mild bis hin zu einer extremem Einschränkung mit einer entsprechenden Ordnungszahl bezeichnet werden. Das Ergebnis wäre also keine euphemistische Umschreibung für Schwachsinn mehr, sondern zum Beispiel die wertneutrale Diagnose »Partielle Inkognition Stufe I«.
Ich möchte mit diesem neuen Begriff Menschen mit der Diagnose Inkognition (Demenz) vom Stigma des Schwachsinns befreien, indem ich sie weiterhin und zutreffend, aber wertneutral inkognitive Menschen nenne. Wir können nämlich nicht einerseits darauf beharren, dass Menschen mit der klinischen Diagnose Inkognition (Demenz) auch Menschen mit aller ihnen zustehenden Würde seien, und sie gleichzeitig durch einen ziemlich schwachsinnigen Begriff abwerten, selbst wenn wir diesen Begriff nicht so (zu) meinen (glauben). Aber wenn wir ihn nicht so meinen, dann können wir auch ganz darauf verzichten und die Dinge mit korrekten und wertfreien Begriffen versehen.
Ich plädiere also für ein gesellschaftliches und wissenschaftliches Umdenken, damit in naher Zukunft die Einschränkung kognitiver Fähigkeiten korrekt und grundsätzlich als Inkognition bezeichnet wird. Mit dieser Richtigstellung und Neuordnung des Begriffes für die Einschränkung von Kognition könnte der Beruf der Demenzbegleitung auch als Kognitionsassistenz – im Sinne einer Erkenntnis- und Erklärungsassistenz für inkognitive Menschen und deren Angehörige – bezeichnet werden. Mit dieser Änderung der Tätigkeitsbeschreibung könnte auch der weit verbreitete Irrtum vermieden werden, es handele sich dabei bloß um Händchen halten von Menschen, die nicht mehr in unsere Gesellschaft passen. Mit der Verwendung des neuen Begriffes Kognitionsassistenz werden diesem ganz offenkundig Fähigkeiten zugrunde gelegt, die jede Art von Hilfe bei kognitiven Einschränkungen umfassen. Damit könnte eine inhaltliche Angleichung an die viele Tätigkeiten umfassen könnende Assistenz für Menschen mit körperlichen Behinderungen erfolgen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass eine wissenschaftliche Änderung der Diagnose Demenz in Inkognition sowie eine Änderung der Berufsbezeichnung Demenzbegleitung in Kognitionsassistenz nicht nur ein gesellschaftliches Umdenken und eine dringend benötigte Sensibilisierung für inkognitive Menschen hervorrufen wird, sondern diesen Menschen einen großen Dienst erweisen wird, weil er ihnen mit Respekt zeigt, dass sie vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft sind.