Goll & Vanz: (m)ein Beitrag zu »Landau liest ein Buch«.

Liebe Freunde, ihr habt sicher schon von der Aktion »Landau liest ein Buch« gehört. Infos zur Aktion findet ihr unter https://www.landauliesteinbuch.de/. Thema der Aktion »Landau liest ein Buch« ist das Buch »Herzfaden« von Thomas Hettche:

Das Buch Herzfaden ist ein Roman über ein kleines Theater: die Augsburger Puppenkiste, deren Protagonisten uns allen bekannt sind. Im Roman Herzfaden, der im Zentrum der Poetik Dozentur und des Projektes „Landau liest ein Buch“ steht, gerät ein zwölfjähriges Mädchen nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste durch eine verborgene Tür auf einen märchenhaften Dachboden, auf dem viele Freunde warten: die Prinzessin Li Si, Kater Mikesch, Lukas, der Lokomotivführer. Vor allem aber die Frau, die all diese Marionetten geschnitzt hat und nun ihre Geschichte erzählt. Es ist die Geschichte eines einmaligen Theaters und der Familie, die es gegründet und berühmt gemacht hat.

Zur Aktion gibt es einen kleinen Schreibwettbewerb zum Thema »Die Marionette«. Wenn ihr Lust und Laune habt, beteiligt euch doch einfach am Schreibwettbewerb. Einsendeschluss ist der 31. März 2023.

Zum Schreibwettbewerb habe ich unter einem meiner Pseudonyme, Maria v. Boisse, den folgenden Beitrag eingereicht, genauer den ersten Teil, da der eingereichte Beitrag (nur) 12.000 Zeichen umfassen soll:

Goll & Vanz

Maria v. Boisse

Eine nur relativ kurze, wenngleich philosophische Betrachtung des Daseins einer Marionette der Wahl des geneigten Rezipienten im Verhältnis zu seinem Sein und den damit verbundenen Wünschen nach grenzenloser Freiheit im mäandernden Spannungsfeld der Realität mit ihren kleinen Wundern am Rande des Ereignishorizonts ….

Teil I

Was ist eine Marionette? Die herkömmliche Krönung der Schöpfung, angeblich der Mensch, betrachtet eine Marionette ganz einfach als Puppe an Fäden, deren Aufgabe doch einzig und allein darin bestehen solle, die an ihr hängenden Glieder nach seinem Willen dahingehend koordinieren zu lassen, auf dass sie auf recht spannende Weise den Eindruck erwecke, sie wäre so etwas wie ein vollständiger Zustand und verfüge über ein ganz eigenes Leben, über dass der Betrachter jedoch naturgemäß nicht verfügen möchte, denn wer möchte schon sein Leben tagsüber am seidenen Faden verbringen, um in den Nächten im Schweiße der Angst zu baden, der Lebensfaden könne reißen, auf dass seinem Leben der Sinn entschwönde? Damit einher geht die geistig einigermaßen stabile und vielleicht deshalb irgendwie beruhigend erscheinende Überzeugung, die Marionette wäre abhängig vom Großen Strippenzieher … dem Menschen in seiner Pracht und Tracht. Und mal ehrlich, wer möchte nicht auch mal an den Strippen des Lebens kleiner, schwacher Marionetten ziehen, deren größte Not darin zu bestehen scheint, dass sie die eigenen Strippen nicht zu ziehen in der Lage sein sollten? Die Beziehung des gemeinen Menschen zur also im Allgemeinen wehrlosen Marionette gleicht demnach der Beziehung zwischen Gott und seinem Ebenbilde, also uns selbst. Wobei mit uns an dieser Stelle durchaus Gott gemeint sein muss, da die Rolle des Ebenbildes, selbstverständlich nur in ganz gewisser und auch ganz bewusst unvollständig gehaltenen Weise, die Marionette einzunehmen hat, ganz im Sinne ihrer Erfindung, der für einige wohl darin bestehen muss, dass sie der Erbauung und Belustigung des Volkes zu dienen hätte, um diesem aufzuzeigen, wie durchaus lustig und interessant es sein kann, in allerlei lehrreich anzumuten habenden Handlungen mittels nicht nur am Ende hilflos erscheinendem Hampeln und Strampeln versetzt zu werden, auf dass das Publikum vor Freude kreische, am anderen Ende der Betrachtungskette zu sitzen.

So gesehen erscheint uns auch die schönste Marionette als doch eigentlich ziemlich armes Schwein. Da sie uns jedoch in die durchaus komfortabel erscheinende Irre führt, wir unterschieden uns von ihr in Aufbau, Zweck und im Dasein ganz allgemein sowie auch sehr speziell, hält sich unser Mitleid mit den dort an Strippen hängenden Holzköpfen in einigermaßen engen Grenzen, welche jedoch unserem beruhigenden Glauben, die Bühne wäre irgendwo dort, wo wir auf keinen Fall sein wollen, seine eigenen Grenzen aufzuzeigen geeignet sind.

Betrachten wir als simples Beispiel die Täterin des vorliegenden Traktats und selbiges sowie etwaige Leser sowie mehr oder weniger geneigte Zuhörer und stellen dazu die ebenfalls simple Frage: Wer ist hier Marionette, wer Strippenzieher und wer Rezipient?

Unser Glaube an unsere Individualität verleitet uns in Verbindung mit dem weiteren Glauben an unseren göttlichen Auftrag, uns die Erde untertan zu machen, zu einem unauflösbar erscheinenden Widerspruch, denn wie sollen wir individuell und damit frei sein, wenn unser Leben von Gott bestimmt ist, unabhängig davon, wer in irgendwelchen Momenten unseres zeitlich doch recht überschaubaren Lebens die Rolle von Gott einzunehmen in der Lage ist … oder zumindest – gemeinsam mit uns – daran glauben möchte? Wie sollen wir Freiheit überhaupt erkennen können, wenn unser Denken, unsere Handlungen und unsere Unterlassungen am seidenen Faden der Überzeugung hängen, wir unterlägen einem Schicksal? Völlig verwirrend wird es, wenn wir dazu dem unerschütterlichen Drang unterliegen, uns mit anderen gemein zu machen, auf dass diese uns nicht als arme Irre anerkennen, die es gilt, aus der Gruppe zu eliminieren.

Der Widerspruch zwischen Individualität und Konformität besteht ausschließlich im unerschütterlichen Glauben an ihren Gegensatz, entstehend aus dem unbeugsamen Willen zum Reiten eines wirklich schnellen Pferdes bei der Überquerung des Ozeans.

Oh lasset uns, selbstverständlich zumindest theoretisch und auch nur ansatzweise, annehmen, wir seien frei von Strippen und deren Ziehern aller Art. Was hätte eine solche Annahme für Folgen? Nun, die erste und wahrscheinlich gravierendste Folge wäre der Verlust jeden Lebens, denn ohne jede Bindung sind wir nichts. Gar nichts. Das mag unhöflich klingen, ist aber so. Das Wesen der Emergenz erfordert zwingend das fluide Wirken scheinbar unterschiedlicher Systeme, aus deren Eigenschaften wiederum Eigenschaften entstehen, die den einzelnen Systemen nicht a priori immanent sind. Solange also physikalisch keine Verifikation des Irrtums, es gäbe auch nur einen Hauch von etwas Unbedingtem, also etwas ohne jede Bedingung und damit Bindung an eine Ursache, erfolgt ist, und die Chancen dafür stehen ziemlich gut, können wir getrost davon ausgehen, dass wir alle Marionetten sind.

Die damit zwingende Folgefrage ist: Bedeutet der Verlust unserer Unbedingtheit, der Verlust unserer Ungebundenheit, letztlich der Verlust unserer Trennung von allem Sein, kurz: der Verlust von all dem, was wir glauben, als Grundlage für Freiheit auszumachen, auch zwangsläufig den Verlust dieser Freiheit? Nun ja, das kommt auf unsere Definition von Freiheit an.

Im Allgemeinen, will hier heißen: Unbewussten, definieren wir kindisch naiv die Freiheit als einen Zustand, in dem wir machen können, was immer uns einfällt, ohne dass wir dabei gestört werden durch unangenehme Folgen oder Verbote. Erkennen wir jedoch, dass keiner von uns einen solchen Zustand jemals nachweisen konnte, können wir Freiheit definieren als Freiheit zu Unterlassungen aller Art. Wir müssen nicht töten, wir müssen nicht tun, was anderen die Freiheit nimmt. Wir sind frei, diese Handlungen zu unterlassen, was gleichzeitig dazu führt, dass wir eine Menge Zeit haben, um Sinnvolles zu tun.

Mir ist schon bewusst, dass ein solches Konzept in einer Welt wie unserer, also mit einer Weltsicht wie unserer, völlig abwegig und utopisch im Sinne von Blödsinn erscheinen muss. In einer Zeit, in der sogar manche als klug geltenden Menschen unbedingt eine Fahrkarte für den Zug der Ignoranz und Dummheit lösen wollen, sind selbst annähernde Zeichen von Intelligenz gefährlich, da die ständige Gefahr besteht, missverstanden und nicht nur verbal erschlagen zu werden.

Bei genauer Betrachtung des Zustandes der Welt, die wir interessanterweise als unsere bezeichnen, können wir erkennen, dass unsere Unterlassungen mehr zu deren desolatem Zustand beitragen, als alle Handlungen zusammengenommen. Ein Idiot kann durchaus irgendetwas unfassbar Dummes tun. Um aber Wirkungen zu erzielen, die wirklich nachhaltig sind im Sinne von: Ups, dass wirkt ja weit über meine Lebenszeit hinaus!, bedarf es einer wirklich enormen Menge an Ignoranten, die der felsenfesten Überzeugung sind, ihre höchst interessierte Einlassung auf das erkennbar Dumme wäre folgenlos für ihr Leben speziell und das Leben allgemein. Wenn Du denkst, Du bist zu klein, um etwas zu versauen, dann schau Dir den Lebenslauf von Adolf Hitler an.

Und in der Tat erscheint es für die Welt besser, wenn Menschen den ganzen Tag auf dem Sofa sitzen und alle Freiräume ihrer Blutbahnen mit Zucker überfluten, als auf der Straße als Dauerdemonstranten für DAS GUTE™ anderen Leuten, die einem wesentlich dümmer als man selbst erscheinen, zu erklären, was sie zu tun hätten, um die Welt zu retten. Das Konzept der Rettung der Welt ist ohnehin etwas merkwürdig und offenbart einen so tief menschlichen wie albernen Eigentumsanspruch, über den wir naturgemäß nicht verfügen. Die Welt braucht unsere Rettung nicht, sie braucht unsere Zurückhaltung. Wir brauchen Rettung. Unser Leben hängt an einem ziemlich dünnen Faden aus Wachs, während wir den ganzen Tag in der prallen Sonne schwelgen in dem Glauben, wir täten uns etwas Gutes.

Wir sehen, das Konzept der Unterlassung ist uns gar nicht so fremd, wie es auf den ersten Eindruck erscheinen mag. Diese Tatsache erkannt, können wir beginnen, den Fokus unserer Ignoranz zu verschieben. Realität, oder das, was wir dafür halten (wollen) gestalten wir auf eine sehr einfache, wenn auch mitunter sehr komplex erscheinende Weise.

Stellen wir uns dazu ein kleines Spiel vor: Mehrere Spieler halten jeweils ein eigenes Seil, oder dem Kontext des Daseins einer Marionette folgend: einen eigenen Faden, die alle an einem einzigen Ring befestigt sind, sagen wir einem Hula-Hoop-Reifen. Das Spielfeld ist ein Kreis, in z.B. vier Felder unterteilt, wobei jedes Feld mit einer für alle wichtigen Funktion X bezeichnet ist, während alle Spieler am Rande des Kreises stehen. Ziel des Spiels, nennen wir es Demokratiespiel, ist es, den Hula-Hoop-Reifen, nennen wir ihn Montagepunkt, in einer vorher bestimmten Zeit über einen Ausschnitt des Spielfeldes zu bekommen, mit dem alle Spieler einverstanden sind oder der sich am Ende der Spielzeit ergibt. Es ist ein bisschen wie Tauziehen mit mehreren Tauen, welche in unterschiedliche Richtungen gezogen werden. So weit, so verständlich.

Nun verschieben wir den gemeinsamen Fokus, den Montagepunkt der gemeinsamen Realität, zu einem erst am Ende des Spiels erkennbaren gemeinsamen Punkt, dem neuen Montagepunkt. Während einige Spieler ziehen, weil der von ihnen gewünschte Fokus in ihrer Nähe liegt, können Spieler, deren gewünschter Fokus ihnen gegenüber liegt, nicht einfach ziehen, sondern müssen durch koordiniertes Nachlassen oder eigentlich das Unterlassen des Ziehens, ganz einfach, weil man ein Seil nur sehr schlecht schieben kann, versuchen, das Ziehen und Nachlassen der anderen Spieler zu nutzen, um den Montagepunkt an die von ihnen gewünschte Stelle im Kreis oder in deren Nähe zu bringen.

Marionettenspieler arbeiten ähnlich. Jeder Aufbau der Aufhängung einer Marionette folgt der Schwerkraft und den Pendelgesetzen. Danach ergibt sich als einfachster Aufbau eine waagerechte Halterung, an der der Kopf und mindestens die Arme der Marionette aufgehängt sind. Bewegt man die Aufhängung vertikal, hebt sich ein Arm, während sich der andere senkt. Was nun für den unbedarften Beobachter aussieht wie das Heben eines Armes, ist ein Zug entgegen der Schwerkraft. Gleichzeitig jedoch bewirkt das Fehlen des Zuges gegen die Schwerkraft deren Wirkung in Form des Senkens des anderen Armes. Nicht nur das, die ganze Marionette hängt nach unten ohne jedes Zutun des Spielers. Es bedarf also keines weiteren Spielers, der die Marionette nach unten bewegt, das macht die Schwerkraft. Und ebenso wie die Schwerkraft die Glieder der Marionette ganz einfach in ihre Wirkungsrichtung zieht, ebenso bewirkt das Nichttun oder die Unterlassung, dass Wirkungen entstehen. Dort, wo für einen Laien nichts passiert, wenn er nichts tut, sieht der Fachmann für Realitätsgestaltung genaue Wirkungen aufgrund seines Nichttun als deren Ursache. Das klingt profan und ist profan. Aber diese Profanität muss nicht dazu verleiten, diese Gesetzmäßigkeit nicht anzuerkennen.

Unser wohl größter Fehler ist die Unterlassung der Anerkenntnis von Tatsachen, die wir einfach unterschätzen, weil wir sie gering schätzen. Unabhängig vom damit verbundenen Beweis, dass wir ohne weiteres in der Lage sind, vielfältige Handlungen zu unterlassen, wenn es denn der Faulheit dient, ist das manchmal bis oft fatal. In vielen Fällen können wir froh sein, dass unsere Erkenntnisfaulheit nicht mehr bewirkt als bloße Dummheit. Meist jedoch bewirkt sie den Verlust des kindlichen Staunens über die Wunder der Welt. Und hier kommen die Marionettenspieler und ihre Kollegen aus allen Bereichen der Künste ins Spiel des Lebens. Sie schaffen oft, was das Leben selbst nicht zu schaffen scheint: Sie bringen uns zum Wundern … und das ist gut. Sehr gut wird es, wenn wir dadurch lernen, die Welt als Wunder wahrzunehmen ….

Teil II

Zum Thema Wunder ein kleines Beispiel: Nehmen wir an, Sie oder Du und ich sitzen gemeinsam an einem gedeckten Kaffeetisch mit dem üblichen Geschirr und Besteck und natürlich einem lecker, lecker, also wirklich lecker Kuchen. Wir reichen uns höflich den Kaffee, schenken uns ein, fügen nach Wunsch Milch und/oder Zucker hinzu oder unterlassen das auch, nehmen uns Kuchen und lassen es uns schmecken. Anschließend stehen wir auf, verabschieden uns und schwärmen möglicherweise von einem schönen Nachmittag und dem lecker Kuchen, und wer weiß, vielleicht hat uns sogar der Kaffee geschmeckt, obwohl er nicht so war, wie bei uns Zuhause? Ein toller Nachmittag. Aber Hand aufs Herz: Würden wir diesen Nachmittag als Wunder in Erinnerung behalten? In der Regel wohl nicht. Gut, vielleicht war er sogar wunderbar, aber ein Wunder? Eher nicht. Ein Wunder braucht für uns schon ein paar Überraschungen mehr.

Dieselbe Szene: Wir sitzen am selben Tisch mit denselben Kuchen, aber plötzlich erhebt sich die Kaffeekanne wie von Geisterhand getragen und schenkt uns ein, während die Kuchen wie von allein von der Kuchenplatte schweben und sich sanft auf unsere Teller niederlassen. Wollen wir wetten, dass uns der Mund offen stehen bleibt und wir das als echtes, wenn auch kleines privates Wunder einordnen würden? Gut, wir würden wohl sofort an einen super Trick denken, aber stellen wir uns einfach vor, das würde wirklich passieren, ganz ohne Trick und Netz und doppelten Boden, während ein ordentlich mit Sahne gefüllter und verführerisch vor uns schwebender Löffel unserem Staunen und Geschmack die Krone aufsetzt. Wir hätten sicher ein Erlebnis fürs Leben gehabt und könnten sagen: Ich war dabei!, während wir am nächsten Tage in einer angeblichen Zeitung vom Wunder vom Kaffeetisch lesen würden.

Und nun die simple Frage: Warum erscheint uns das eine profan und irgendwie beiläufig … abgesehen vom wirklich lecker Kuchen … und das andere als Wunder? In beiden Fällen bewegten sich Kaffeekannen und -tassen sowie diverse Kuchen und Sahnen von A nach B und schließlich nach C, in unseren Magen. Und ob nun Tante Emma den Kaffee einschenkt oder ein unsichtbarer Geist, ist letztendlich für das Ergebnis, ein köstlicher Nachmittag, unerheblich. Warum ist also das erste überhaupt kein, aber das zweite ein mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mindestens kleines Wunder? Könnte es sein, dass Wunder etwas mit unserer Sicht auf die Welt zu tun haben?

Wer kennt sie nicht, die wundersamen Geschichten, denen wir als Kind ehrfürchtig bis furchtsam gelauscht haben? Warum verzaubern Geschichten über Wunder seit Anbeginn der Menschheit die Bewohner dieser Welt, aber Bäume, Blumen und Tiere sind uns nicht mehr wert als ihre zeitnahe Beseitigung um, … pünktlich zur Vorstellung des Lebens zu kommen?

Heute lächeln wir nur noch unwissend über die Dummheit unserer Kinder, an Geschichten zu glauben, die wir ihnen erzählen. An Stelle dessen erfinden wir für uns grausame Geschichten über Gräuel, die selbstverständlich niemals von uns ausgehen, und wundern uns darüber, dass wir uns nicht mehr zu wundern trauen. Später dann klagen wir unsere Kinder an, unseren Geschichten nicht geglaubt zu haben. Ursache & Wirkung.

Lassen wir diesen Unsinn doch einfach. Wir können lernen, unsere tödlichen Routinen zu brechen … um unser Überleben und das unserer Kinder willen, damit zumindest diese keine Marionetten der eigenen Dummheit werden.

Wunder geschehen durch Geschichten. Geschichten beinhalten ein nichtstoffliches Element; der wunderbare Terry Pratchett taufte es »Narrativium« als Grundelement seiner Scheibenwelt. Alles ist Geschichte. Geschichte ist das Elixier unseres Lebens, denn Geschichten verleihen unseren Handlungen … und Unterlassungen … Sinn.

Wenn wir die Welt als Wunder sehen und verstehen wollen, müssen wir unsere Routinen erkennen, denn aus ihnen entstehen unsere Geschichten über die Welt. Im absoluten Sinne gibt es für unser Bewusstsein kein DA DRAUSSEN, dass objektiv erfahrbar wäre und unabhängig von uns existiert. Da draußen ist nur eine Projektionsfläche für unsere verschiedenen Interpretationen unserer immer subjektiven Erfahrungen, die aus grundsätzlichen Gefühlen von Zuneigung und Abneigung entstehen. Wir sind Marionetten unserer Sicht auf die Welt und hängen an den Fäden unserer Wünsche. Noch einfacher: Wir suchen Glück und wollen Leid vermeiden. Unsere Interpretationen dieser beiden Zustände entscheiden, was wir wie wahrnehmen und was Grundlage unserer Geschichten ist. Demnach ist unsere Vorstellung von Freiheit nichts weiter, als die Suche nach ewigem Glück und ständiger Abwesenheit von Leid.

Die erste Routine, die wir (unter)brechen können, ist demnach unsere Routine der Beschreibung der Welt. Wir können uns jederzeit fragen: Erzähle ich eine Geschichte, weil sie so ist, oder ist die Geschichte so, weil ich sie erzähle? Erinnern wir uns an das Sprichwort »Des einen Leid ist des anderen Freud’«? Es geht dabei nicht zwangsläufig darum, dass das Leid des Einen die Freude des Anderen hervorruft. Welchen Sinn hat eine solche Geschichte?

Man kann auch eine andere Geschichte erzählen. Vielleicht ist ja das, was der Eine als Leid empfindet, die Freude des Anderen, weil der Andere andere Vorstellungen von Leid und Freude hat? Nur weil jemand leidet, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass sich darüber ein anderer freut. Das ist eigentlich sogar recht selten, denn wir sind empathische Affen, die lieber mit anderen Bananen essen, statt ihr Leben damit zu verbringen, sich darüber zu freuen, wie andere Affen verhungern.

Vielleicht geht es ja eigentlich darum, dass die Sicht des Einen auf die Welt Leid bewirkt, während die Sicht des anderen auf die Welt Freude erschafft? Vielleicht haben wir die Möglichkeiten dieser Geschichte noch gar nicht gesehen, nicht sehen können, nicht sehen wollen?

Eine andere Geschichte und schon sieht die Welt ganz anders aus … wir schaffen das.

Im Ergebnis sind wir alle Marionetten an den Fäden der eigenen Geschichten über das Leben, die wir, mehr oder weniger kunstvoll, mit den Gesetzen des Lebens im Einklang bewegen können. Kennen und folgen wir diesen Gesetzen nicht, verheddern sich die Fäden und das Leben wird ziemlich kompliziert. Und irgendwann stehen wir nackt auf der Straße mit einem langen Wollfaden, der uns bis eben noch bekleidet hat.

Wir können also damit beginnen, dem Gefängnis unserer Definitionen von Freiheit zu entfliehen und uns stattdessen schöne Geschichten ausdenken, was Freiheit wirklich sein kann. In diesem Sinne: Freiheit ist Freiheit von Freiheit.