Weniges ist heutzutage so verpönt wie der Fehler. Wir wähnen uns in einer Zeit der Perfektion; wir unternehmen tagtäglich den untauglichen Versuch, gut funktionierende Maschinen zu sein im Irrglauben, dieses Ziel jemals erreichen zu können. Wir wollen keine Fehler machen, wir vermeiden Fehler um jeden Preis, selbst um den Preis der Erkenntnis des Wesens des Fehlers. Wer Fehler macht, darf nicht mehr mitspielen sollen.
Selbstverständlich glauben wir um die alte Weisheit zu wissen: Wer keine Fehler macht, macht nichts. Aber wen interessieren schon Weisheiten, die im täglichen Kampf um Perfektion zu nichts nütze erscheinen. Wir wollen einfach keinen Sinn darin erkennen, Fehler zu machen, denn Fehler scheinen das betreffende System und seine Funktionen zu stören. Der einzige Sinn, den wir dem Fehler zubilligen, ist: ihn zu vermeiden. Und eben diese Fehlervermeidung ist unser größter Fehler, denn sie hindert uns nicht, Fehler zu machen, sondern sie hindert uns, Fehler zu erkennen, ihnen einen Sinn zu geben, und somit hindert sie uns am Lernen aus diesen Fehlern.
Unsere Fähigkeit zur angemessenen Unterscheidung in richtig und falsch ist grundlegend für unser Überleben. So erscheint es nur folgerichtig, den Fehler, einen großen Schritt zu machen, zu vermeiden, wenn wir wissen, in Richtung dieses Schrittes befindet sich zum Beispiel ein Abgrund, dessen Betreten uns in aller zur Verfügung stehenden Geschwindigkeit mit den – nach wie vor unbekannten – Gesetzen der Gravitation bekannt macht. So weit, so folgerichtig. Jedoch stellen wir uns selten die Frage, woher wir eigentlich wissen, dass wir in den Abgrund stürzen?
Bereits hier erscheinen unterschiedliche Merkmale dessen, was wir allgemein als Fehler bezeichnen und im Grunde wissen wir auch um diese Unterschiede. Wir wissen einerseits aufgrund unserer und der Erfahrung anderer, dass eine gewisse Zeitüberschreitung beim Braten einer saftigen Gänsekeule unweigerlich zu deren ungeliebten Endzustand in Form eines Haufens angebrannten Fleisches führt und zu ziemlich viel Qualm in der Küche und Ärger beim Beseitigen der Spuren. Was wir aber andererseits auch wissen, jedoch im täglichen Leben ablehnen, ist das Wissen um die Tatsache, dass erst der Fehler, die Bratröhre unbeaufsichtigt zu lassen, überhaupt zum Wissen darum führt, dass wir das schöne Mittagessen getrost vergessen können, was in der Folge dazu führt, diesen Fehler vermeiden zu können. So paradox es auch klingen mag: Erst die Begehung des Fehlers führt zu dessen Vermeidung. Die hier gemeinte Vermeidung besteht jedoch nicht in der Vermeidung des Fehlers an sich, sondern in der Vermeidung seiner Wiederholung.
Das also führt zur Erkenntnis, dass Fehler zunächst begangen werden müssen, um ihre Wiederholung vermeiden zu können. Und an dieser Stelle können wir ansetzen, indem wir tatsächlich bewusst versuchen, Fehler zu begehen. Auf diese Weise verleihen wir Fehlern den Sinn, uns zeigen zu können, wie etwas nicht funktioniert. Das klingt auf den ersten Blick selbstverständlich und ist es in gewisser Weise auch, weil wir genau so funktionieren. Nicht selbstverständlich an dieser Erkenntnis ist ihre Übertragung in unseren Alltag.
Es ist leider nicht alltäglich, dass Fehler prämiert und belohnt werden. Es gibt in der Regel keinen Beruf des Fehlermachers, welcher zudem noch gesellschaftlich anerkannt und derart belohnt wird, dass der Fehlermacher davon sein Lebensunterhalt bestreiten könnte. Fehler werden bestraft und das ist ganz einfach … dumm. Und dazu ein Riesenfehler, der immer neue Fehler nach sich zieht. Um es an ein bekanntes Bonmot von Schiller anzulehnen: Das eben ist der Fluch des falschen Fehlers, dass er, fortzeugend, immer Fehler muss gebären.
Die Beurteilung des Menschen erfolgt heutzutage an seinen Erfolgen. Kaum einem Menschen erscheint es heutzutage logisch, andere Menschen danach zu beurteilen, auf welche Art und aus welchen Gründen sie Fehler begehen und auf diese Weise anderen helfen können, Fehler zu erkennen und ihre Wiederholung zu vermeiden.
Richtig in diesem Sinne ist also nicht, keine Fehler zu begehen, sondern es ist im Gegensatz dazu völlig falsch, keine Fehler begehen zu wollen. Es geht demnach nicht darum, die Dinge richtig im Sinne von fehlerfrei zu machen. Etwas derart Richtiges nützt nur scheinbar und nur im Moment. Wir können lernen, die Dinge richtig falsch zu machen, um zu verstehen, was wie und warum falsch läuft. Je besser wir nämlich verstehen, wie man die Dinge richtig falsch macht, desto eher können wir uns als Bibliothekare des Versagens verstehen, als Besserschlechtmacher, die über ihre Fehler Protokoll führen. Man stelle sich einmal eine Zukunft vor, in der es spezielle Fehlerbibliotheken gibt, in denen man nach Herzenslust alle bekannten Fehler studieren kann.
Wenn wir Fehlerfreundlichkeit meinen, beziehen wir uns in der Regel auf den von Christine von Weizsäcker geprägten Begriff in seiner folgenden Definition:
»Fehlerfreundlichkeit bedeutet zunächst einmal eine besonders intensive Hinwendung zu und Beschäftigung mit Abweichungen vom erwarteten Lauf der Dinge. Dies ist eine in der belebten Natur überall anzutreffende Art des Umgangs mit der Wirklichkeit und ihren angenehmen und unangenehmen Überraschungen.«
Wenn wir der Fehlerfreundlichkeit weiterhin die Prämisse der Freundlichkeit mit Fehlern – als ein freudiges Erwarten – und eine gewisse Dankbarkeit gegenüber denen, die diese Fehler machen (können), hinzufügen, haben wir zukünftig die Möglichkeit, nicht nur an unseren (scheinbaren) Errungenschaften gemessen zu werden, sondern zuerst an der Art und Weise, wie und warum wir Fehler machen und deren Wiederholung vermeiden, und an unserem Umgang mit diesen Fehlern und ihren Verursachern.